Konzertbericht
Reeperbahn Festival
Tag 2 - Groundhopping
Hamburg, St. Pauli
24.09.2010
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Jahr für Jahr packe ich Schlafsack, Zelt und Junkfood zusammen, um auf diversen Festivals drei bis fünf Tage im Dreck zu Leben (wir nennen es "campen"). Es macht mir Spaß. Und trotzdem ist eine der herausragenden Eigenschaften des Reeperbahn-Festivals, dass alle riechen wie frisch geduscht. Weil sie es wahrscheinlich auch sind. Toll.
Aber zurück zum Programm. Am Freitag ging das Festival erst richtig in die Vollen, die Clubs in der Schanze waren mit von der Partie, wie auch das Konzertschiff "Frau Hedi", welches Künstler und Publikum für eine Konzertlänge durch den Hamburger Hafen schippert. Zunächst stand wieder der Reeperbahn Campus auf der Tagesordnung, wo eine tatsächlich interessante Podiumsdiskussion zum Thema "The geeks will kill creativity" statt fand. Nach ein wenig Window-Shopping folgte wieder das tägliche Date mit Ray Cokes. Gelöster, aufgedrehter und hektischer führte er durch seine Reeperbahn-Revue, lieferte sich filmreife Dialoge mit den großartigen COSMO JARVIS und BALTHAZAR, THE LAST CALL und STORNOWAY komplettierten die feucht-fröhliche Talk-/Unplugged-Musik-Runde.
Zum Start in den Konzertabend ging es ins Knust zu DOTA UND DIE STADTPIRATEN, welche mir schon mehrmals wärmstens ans Herz gelegt wurden. Es wurde viel getanzt, trotzdem kommt diese Band bei mir nicht über den Status schrecklich netter und lieber Studentenmusik hinaus. Irgendwas zwischen Juli, einer beliebigen Skaband und einem Poetry Slam. Lange mitmachen musste ich das glücklicherweise nicht, denn einen Steinwurf weiter spielten ADOLAR im grünen Jäger, die ich nun zufälligerweise schon zum dritten Mal sehen durfte. Diesmal habe ich endgültig mein Herz verloren. Die nerdigen Buben aus Leipzig spielten wieder ihre dreckige Vision von Emorock herunter, was mich immer an die Desaparecidos, das geniale Ex-Seitenprojekt von Conor Oberst erinnert. Leidenschaftlich, laut und schnell.
Danach wurde es wirr. Einer meiner wenigen Pflichttermine am Wochenende, WOLF PARADE im Docks, stand vor der Tür. Aus Angst vor drohender Überfüllung stand ich schon extra früh in der Halle, schöpfte aber schon bald den Verdacht, dass hier etwas nicht stimmen könnte. Publikum wie Roadies waren durch die Bank 45+, worüber ich mich zunächst sehr freute (angenehmes Konzertpublikum). Die Bühne betrat dann allerdings ein gewisser EDWYN COLLINS, der zähen Golfclub-Rock spielte. Auf dem Weg nach draußen fanden sich eine Menge frustrierter Gesichter, WOLF PARADE hatten aus welchen Gründen auch immer schon zwei Stunden vorher gespielt. Weiter in die Prinzenbar ums Eck, sich zu STILL FLYIN's Vibraphon-Indierock den Frust aus den Beinen tanzen. Funktionierte ausgezeichnet.
Ein langer Aufenthalt war jedoch nicht möglich, denn GONZALES lockte mit Piano und Film in die Fliegenden Bauten. Ein weiterer Ort, der mir bisher versagt blieb und durch seine Theateratmosphäre ein charmantes Ambiente für den ausgemachten Weirdo GONZALES schuf. Nach einer halben Stunde höchst unterhaltsamer Klaviermusik wurde sein Film "The Ivory Tower" gezeigt, in dem Peaches und der Maestro persönlich die Hauptrollen einnehmen. Es geht um eine neue Art von Schach, erfunden von Gonzales' Charakter Herschel: "Jazz Chess". Vollkommen wahnsinnig, aber in der Tat sehr gelungen, GONZALES als franko-kanadischer Helge Schneider.
Zurück im Docks sorgten FM BELFAST dann noch für den krönenden Tagesabschluss. Anarchische Indielectro-Beats, viel Geschreie und Gekreische, ein völlig absurdes "Killing in the name of"-Cover, gute Laune, eine schwitzender Mob, der Duft von verschütteten Wodka-Mischgetränken.
Und schon hatte es sich wieder mit dem Duft frisch geduschter Menschen. Es war aber zugegebenermaßen schon recht spät.
Fortsetzung folgt...
Benedikt Ernst, 25.09.2010
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