Konzertbericht
Reeperbahn Festival
Tag 1 - Zur Sonne, zur Freiheit
Hamburg, St. Pauli
23.09.2010
Tag 1 beim Reeperbahnfestival. Zur Mittagsstunde gibt Sankt Pauli das gewohnte, liebenswerte Bild ab: Graffitis und Totenköpfe, Stripschuppen und 24-Stunden-Läden, Punks und geschniegelte Unternehmer. Aus den zahlreichen Cafés schallt gedämpfte Musik in den sonnigen Nachmittag, es herrscht allgemeine Ruhe. Abgesehen vom Spielbudenplatz, wo sich allerhand Pressevertreter mit Bier und Kippen auf die kommenden Tage einstimmen. Pünktlich um drei Uhr eröffnet Bürgermeister Ahlhaus im Schmidt Theater das Festival. Kulturstaatsminister Bernd Neumann schwadroniert von den ökonomischen Hintergründen der Musik, während Madonna-Entdecker und Sire-Records-Gründer Seymour Stein amüsante Schwänke aus seiner Zeit mit den Ramones und den Talking Heads ausplaudert.
Eine knappe Stunde später weicht die graue Theorie einer umso schillernderen Persönlichkeit. MTV Legende Ray Cokes' gibt seine tägliche "Reeperbahn-Revue" in der er seine Lieblingsbands des Tages präsentiert. Mit der Eleganz eines Londoner Barkeepers stellt der Grandseigneur des Musikfernsehens heute TIMO RÄISÄNEN, LIFE IN FILM, HANNAH GEORGAS und CAITLIN ROSE vor. Die Unplugged-Auftritte sind durch die Bank gelungen, in Cokes' Talkrunde wissen vor allem Räisänen (gewann einen Sauna-Contest gegen eine handvoll Finnen, um ihnen zu beweisen, dass er nicht schwul sei) und Rose (stellt mit Begeisterung fest, dass man in Berlin scheinbar sogar Crack auf der Straße rauchen darf) zu gefallen. Ein amüsanter Start in den Donnerstag, an dem die Konzerte zwar noch nicht so zahlreich, aber schon ausgesprochen hochwertig sind.
Das schöne am Reeperbahn-Festival ist ja, dass man als Nicht-Hamburger viele Orte sieht, die man unter normalen Umständen nie betreten würde. Einer davon ist Angies Nightclub, direkt am Spielbudenplatz. Beleuchtete, teppichbezogene Stufen führen mich zu meinem ersten Konzert, MARIE FISKER aus Dänemark. Was für ein Start. War mir die Dame bis dahin unbekannt, brauchte sie nur zwei Songs um mein Herz zu gewinnen. Ihre unglaublich dunkle Stimme legt sich wie ein schwarzer Vorhang auf die wunderschönen Gitarrenharmonien, die mal in Richtung Nick Cave, mal in Richtung Black Rebel Motorcycle Club ausschweifen. Und immer wieder diese noisigen, sphärischen Shoegaze-Ausbrüche - in Sachen Neuentdeckungen muss Frau Fisker an diesem Wochenende erstmal jemand das Wasser reichen.
Nächste Station: Prinzenbar, gleich ums Eck. Auf der Straße noch schnell ein Astra verhaftet und rein in die wahrscheinlich schönste Konzertlocation Deutschlands. Der Kronleuchter, die Fresken an der Wand, der gigantische Deckenspiegel, muss man gesehen haben. Wenn dann noch die fabelhaften GREAT BERTHOLINIS zu ihrer Interpretation osteuropäischer Indiemusik einladen, kann eigentlich schon gar nichts mehr schief gehen. Großen Teilen des Publikums war die band bisher sichtlich unbekannt, doch innerhalb weniger Minuten standen nur noch die verbohrtesten Tanzbeine still. Ein großartiges Konzert, für dass sich die BERTHOLINIS zu Recht mit einer Schnapsrunde belohnten.
JOHNOSSI mochte ich ja persönlich noch nie, dabei wurden sie mir so oft ans Herz gelegt. Also ab ins Docks, wo die Band selbst den Beweis antreten kann. Doch als ich die Halle betrete, wird auf der Bühne gerade JOCHEN DISTELMEYER angekündigt. Augenscheinlich gab es ein paar Änderungen im Zeitplan, eine nicht geringe Anzahl junger Mädchen verlässt mit langen Gesichtern den Saal. Ich hatte noch nie wirklich viel mit Blumfeld zu tun, hatte zugegebenermaßen immer ein bisschen Angst vor Distelmeyers komischem Blick. Auf der Bühne macht ihm allerdings niemand etwas vor, ein ausgezeichnetes Konzert mit viel Tanz und noch mehr Mittelfingern gegen die politischen Zustände in der Bundesrepublik im allgemeinen und in Hamburg im speziellen.
Danach ging es für mich zurück in meine Bleibe. Kräfte sparen, schließlich gilt es noch zwei Nächte zu durchtanzen. Das wird ein Spaß. Fortsetzung folgt...
Benedikt Ernst, 24.09.2010
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