Interview
65daysofstatic
this is how we bend for what we love
Was fragt man eine Band, die sich „65 Tage des Stillstands“ nennt und deren Musik das exakte Gegenteil von Stillstand, nämlich eine Neudefinition von Progressivität ausmacht? Was kann man von einer Live Show einer Band erwarten, die melodisch-kantigen Posthardcore mit ekstatisch zuckenden Elektro Beats und Samples vermischt und dabei komplett auf Gesang verzichtet? Das Konzert von 65DAYSOFSTATIC am 05.05.2006 im Kölner Blue Shell sollte Antworten liefern.
Um ca. 19.30 Uhr treffe ich die Band am Venue. Erster Eindruck: vier Jungs Mitte bis Ende 20, die allesamt bis auf den Bassisten nicht größer als 165 cm sein können und unter dem später eintreffenden Indie/Emo/HC/wasauchimmer-Publikum nicht mal ansatzweise auffallen würden. Nach kurzer Besprechung wird das Interview in ein nahe gelegenes China-Restaurant verlegt, da im Blue Shell Soundcheck für die Supportband angesagt ist. Gitarrist Paul ist sehr freundlich aber müde und erklärt mir, dass es den anderen ähnlich geht, was nicht verwundert, haben 65DOS doch die letzten Wochen on the road verbracht.
Im Restaurant angekommen beweise ich Dolmetscherqualitäten, indem ich die Speisekarte schrittweise übersetze. Man will ja auch nicht, dass sich die Herren aus England etwas Falsches bestellen. Dann geht es an die Fragen und neben Paul: Gitarre, Elektronik, Samples gesellen sich auch Joe: Gitarre, Rob: Drums und Simon: Bass hinzu. Paul und Joe sind offen und geben sich Mühe jede der Fragen ausführlich zu beantworten. Drummer Rob sieht ziemlich abgekämpft aus und beschränkt sich auf ein paar kurze Einwürfe, während Bassist Simon lieber gleich völlig schweigt. Here we go:
BR: Wie sind eure Eindrücke von der Tour bislang, wie waren die ersten Konzerte in Deutschland so?
Paul65: Die Tour war bislang irgendwie sehr seltsam. Wir haben zunächst eine Woche in Italien verbracht und diese Zeit war ziemlich surreal und chaotisch. Es war zwar insgesamt gut, aber wir hatten mit einigen technischen Problemen zu kämpfen. Vieles funktionierte nicht richtig. Als wir dann nach Deutschland gekommen sind, war es zum Glück das genaue Gegenteil und nach dem tollen Konzert in Berlin sind wir jetzt etwas verwöhnt, was die Konzerte angeht.
BR: Hattet ihr Zeit oder die Möglichkeit euch die Städte in denen ihr gespielt habt, etwas anzusehen?
Paul65: Leider nur sehr wenig. Wir hatten einen Day-Off vor dem Gig in Berlin. Also konnten wir am Morgen der Show ein wenig umherziehen anstatt den ganzen Tag fahren zu müssen. Aber wirklich viel haben wir nicht gesehen.
BR: Hattet ihr irgendwelche Erwartungen an diese Tour, eure erste in Deutschland, zum Beispiel wie viele Leute zu den Konzerten kommen würden?
Joe65: Nein, eigentlich nicht. Wir wussten nicht so richtig, was uns erwarten würde.
Paul65: Wir hatten uns darauf eingestellt, dass es schon hart werden könnte.
Joe65: Wir wussten wohl, dass Touren in Deutschland immer sehr gut organisiert sind und die Namen der Clubs sagten uns was, da schon viele Bands dort aufgetreten waren.
BR: Wie ist das mit euren Konzerten, habt ihr bestimmte Erwartungen und Vorstellungen, wie die Leute auf eure Musik live reagieren?
Joe65: Nun, in Europa gibt es viele Leute, die zu den Konzerten kommen und sehr offen und aufmerksam der Musik gegenüber sind. Es gibt eigentlich nur 2 Reaktionen, die wir bislang auf unsere Musik erfahren haben. Entweder die Leute genießen es wirklich unsere Musik live zu erleben und sind dabei fast überwältigt, oder sie können sie einfach nicht ausstehen (lacht).
BR: Welche Art von Equipment benutzt ihr, auch um die vielen Elektronischen Elemente eurer Musik auf die Bühne zu kriegen?
Rob65: Nur kaputte Sachen. Die Sachen müssen bereits beschädigt sein. (lacht)
BR: Soso, das ist also die Art, wie ihr euren Sound hinbekommt?!
Rob: Ja genau, die Tour ist ziemlich exakt eine Mischung aus „broken stuff and broken people“.
Paul65: Wir nutzen Laptops für die Samples, die normalerweise auf der Bühne eher verborgen bleiben. Heute allerdings ist die Bühne so klein, dass sie nicht versteckt werden können. Die Computer-Sounds werden per Kopfhörer auch direkt zu Rob geleitet, der die echten Beats an den Drums dann damit kombiniert. Auch das Piano zum Beispiel ist direkt mit dem Computer verlinkt, wie eigentlich sämtlicher Technik-Kram den wir nutzen. Ehrlich gesagt verbringen wir viel zu viel Zeit im Probenraum damit, den ganzen Kram zum Laufen und funktionieren zu bringen.
BR: Wenn ihr eure Songs live spielt, versucht ihr die Stücke 1 zu 1 auf die Bühne zu bringen oder bringt ihr auch Variationen mit ein?
Paul65: Nun wir improvisieren nicht wirklich beim live spielen in dem Sinne, dass wir nur lose jammen. Einige der Songs unterscheiden sich aber schon live von den Album-Versionen. Manchmal bringen wir bestimmte Intros in die Live Shows mit ein, manchmal nutzen wir einen Songpart als Intro. Was wir bislang so im Probenraum, auch als Vorbereitung für Live Shows, zusammengeschustert haben, hat sich allerdings bis jetzt immer ein wenig von dem unterschieden, was wir letztendlich aufgenommen hatten. Es ist auf der einen Seite leicht, die Kontrolle über die Songs zu verlieren, aber wenn wir zu jeder Zeit wüssten, was wir wann wie genau spielen müssen, würde es auf Dauer langweilig für uns werden. Wir wissen also schon die Basis jedes Songs, wohin er geht, aber wir spielen nicht jeden Abend die gleiche Show runter.
Um ca. 22.30 Uhr bahnen sich 65DOS einen Weg durch die Zuschauer zur klitzekleinen Bühne im Blue Shell. Der Mehrfachgitarrenständer hat leider keinen Platz und bleibt deshalb vor der Bühne. Noch bevor der erste Ton zu hören ist, werden die Jungs schon mit frenetischem Jubeln begrüßt. Seltsam seltsam, kennt man so was doch sonst nur von Bands, die schon etabliert sind. Der Raum verdunkelt sich und die ersten Laute von Drove through ghosts to get here strömen aus den Boxen. Nach und nach steigert sich der Song, die einzelnen Instrumente steigen in das elektronische Sample mit ein und es wird einem klar, dass der Raum nicht vom Sound erfüllt, sondern regelrecht überflutet wird. Schon nach ein paar Takten merkt man Gänsehaut auf den Armen und weiß, dass dieses Konzert ein Besonderes werden wird. Der Bass wummert mit erdrückender Wucht, ohne dabei die übrigen Bestandteile der Musik abzudunkeln. Alles bleibt glasklar und einnehmend. Nach diesem wahnwitzigen Einstand folgt i swallowed hard, like i understood und spätestens jetzt hält einen die Musik von 65DOS gepackt, umklammert und lässt nicht mehr los. Die Energie braust direkt in Kopf und Beine, die zappeligen Rhythmen lassen einen nicht mehr ruhig stehen. Nicht wenige pendeln zwischen Staunen und Genießen mit geschlossenen Augen.
BR: Wie schreibt ihr eure, doch sehr kompliziert aufgebauten und verwinkelten, Songs? Werft ihr verschiedene Ideen einfach zusammen oder wird auch viel über einzelne Sachen diskutiert?
*10 Sekunden angestrengtes Überlegen und Schweigen*
Joe65: Aaaalso.
*noch mal 10 Sekunden angestrengtes Überlegen und Schweigen*
Rob65 zu Joe65: Denkst du jetzt wirklich über die Frage nach oder willst du nur die Aufmerksamkeit auf dich ziehen?
Paul65: (lacht). Nun die ehrlichste Antwort wäre: Wir wissen es nicht wirklich. Wir sprechen natürlich schon oft über verschiedene Ideen, die jeder mit einbringt. Manchmal funktioniert es ganz gut, ziemlich oft aber auch gar nicht. Es kommt vor, dass wir anfangen einen Song zu schreiben und wirklich eine Ewigkeit dran sitzen. Dann fällt uns für einen anderen Song ein Part ein, der besser zum ersten passt und am Ende kommt dann ein ganz neuer, fertiger Song dabei rum. Wir schreiben insgesamt lange nicht so viele Songs wie andere Bands es vielleicht tun. Wir haben also keine 20-30 Stücke, aus denen wir die besten herauspicken könnten, einfach deshalb weil es uns so viel Zeit kostet die Stücke zu entwickeln. Wir achten außerdem darauf, dass wir wirklich nur die Stücke fertig stellen, die in unseren Augen gut genug sind, sie auch wirklich aufzunehmen.
Rob65: Es gab auf dem letzten Album (One Time For All Time) bestimmte Songs, an denen wir monatelang gearbeitet haben. Und wir spielten und spielten sie aber es wollte einfach nicht passen. Dann gingen wir ins Studio, um von ihnen Demoversionen aufzunehmen. Und der Produzent sagte uns direkt, dass diese Stücke Scheisse seien. Also packten wir die Songs wieder ein und arbeiteten weiter an ihnen. Letztendlich waren wir dankbar für seine ehrliche Ansage.
Joe65: Er sagte uns wortwörtlich, dass die Songs nach einer Band klingen würden, die von ihrem Label gefeuert werden. War sehr toll, wirklich.
Rob65: Im Moment ist die Situation etwas anders, da wir während der Tour an neuen Songs feilen und sie live auf der Bühne oder vor den Konzerten proben und testen können.
BR: Auf eurem neuen Album gibt es mehr elektronische Parts und Spielereien als auf dem Vorgänger „The Fall Of Math“. War es eine bewusste Entscheidung diesmal mehr elektronische Elemente einzubauen?
Joe65: Ich denke das letzte Album ist einfach die Platte, die wir machen mussten. Die einzige Platte, die wir hätten machen können. Es war insofern eine bewusste Entscheidung dahinter, als dass wir eine schnellere, härtere und wütendere Platte machen wollten.
Paul65: Wir hatten kürzlich ein Interview, bei dem die gleiche Frage auftauchte. Allerdings war es dabei genau andersherum, was die Gitarren und die Elektronik betrifft. Wir haben einfach so viele Elemente in unserem Sound, dass es für die Leute immer ein anderes Hörerlebnis ist. Bei unseren Stücken ist es so, dass halt immer das, was der Song braucht, auch verwendet und eingebaut wird. Gitarren und Samples sind für uns im Grunde nur Werkzeuge, mit denen wir die Songs anfertigen.
BR: Auch wenn ihr das wahrscheinlich schon 100mal gefragt worden seid, habt ihr jemals darüber nachgedacht, Gesang in euren Songs zu verwenden?
Joe65: Nein, im Grunde genommen nicht. Was wir musikalisch bislang gemacht haben, hat nie eine Form von Vocals gebraucht. Keiner von uns kann auch wirklich singen. Es ist…hmm…es ist irgendwie als würde man ein Streichquartett fragen, warum sie keine Trompete in ihren Reihen haben. Vocals gehören einfach nicht zu unserem musikalischen Anspruch, zu dem was wir machen wollen. Es ist zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber es scheint, dass wir ganz gut ohne sie auskommen.
Paul65: Es gibt auf dem ersten Album die eine oder andere Stelle, wo wir gesprochene Worte als Sample benutzt haben. Und es gibt auch einen nicht zu leugnenden Effekt, den nur die Stimme eines Menschen haben kann. Orbital haben zum Beispiel Frauenstimmen in ihren Songs, die manchmal nicht mal etwas wirklich Sinnvolles sagen, aber trotzdem wirken. Wir würden Stimmen also auch nur als ein Instrument von vielen betrachten. Bislang hat sich noch keine Gelegenheit für Gesang ergeben.
BR: Was würdet ihr sagen ist wichtiger für Musik generell, und im Speziellen für euren Sound. Ist es eher die Rhythmus/Beats-Seite oder die Melodie/Harmonie-Seite?
Joe65: Was wir bislang erfahren und gelernt haben, besagt dass die Beats einfach der Kern eines jeden Songs sein müssen. Aber man kann keinen Sound kreieren, ohne Melodien unterzubringen. Es ist also wichtig, wirklich Songstrukturen zu haben. Hm, es ist schwierig das zu beantworten. Musik ist immer eine Verschmelzung von beidem. Natürlich sind wir eine sehr Rhythmus-getriebene Band, auch weil wir sowohl elektronische als auch echte Drum-Beats verwenden und uns dies viele Möglichkeiten bietet.
Drummer Rob schafft es. Unglaublich aber wahr. Er schafft es die verquere Rhythmik, die 65DOS auf Platte beweisen auf die Bühne zu übertragen. Ohne Aussetzer. Man fragt sich, ob der kleine Mann mit den nassen Haaren im Gesicht und den riesengroßen Kopfhörern über den Ohren mit 2 Armen mehr als normale Menschen geboren wurde. Aber es bleibt wie es ist, die Band ist live noch ergreifender und mitreißender, ja im tatsächlichen Sinne tanzbarer, als auf ihren Alben. Ob bei älteren Stücken wie hole oder this cat is a landmine oder neueren Hits wie mean low water oder await rescue, der komplett Saal ist in Gefangenschaft dieser irrwitzigen Mischung aus Rock und Elektronik. Jeder Song erhält Applaus und Jubelschreie en masse. Und das mit absolutem Recht.
BR: Gibt es bestimmte Bands zurzeit, die ihr unseren Lesern empfehlen könnt?
Joe65: Circle Takes The Square (http://www.myspace.com/circletakesthesquare) aus Amerika sind wirklich gut.
Paul65: Ja, phänomenale Band.
Rob65: Das letzte Album (Roots Undo) ist wahrscheinlich eines der besten der letzten Jahre.
Joe65: The Mirimar Disaster (http://www.myspace.com/themirimardisaster) aus unserer Heimatstadt Sheffield sind auch wirklich gut.
Paul65: Anablis (??) aus Amerika. Gesprochene Worte über Gitarren. Ist wirklich besser, als es jetzt vielleicht klingen mag. Wirklich gut.
BR: Mit welchen Bands würdet ihr gern mal auf Tour gehen?
Paul65: Deftones!
Joe65: Radiohead!
Paul65: Circle Takes The Square!
Joe65: Tom Waits! Saul Williams!
Paul65: Underworld!
BR: Wie sieht es mit Tool aus, habt ihr euch das neue Album schon angehört?
Paul65 deutet auf Simon und Rob: Das ist was für diese beiden hier.
Rob65: Ich hab die neue noch nicht gehört. Ich mache mir auch ein bisschen Sorgen wie sie wohl geworden ist, um ehrlich zu sein. Lateralus war so ein gewaltiges Album, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie sie diese Platte toppen könnten.
BR: Viele Leute sagen ja, dass 10.000 DAYS ein Querschnitt der letzten 3 Alben geworden ist und viele alte Gitarrenriffs zu neuen Songs neu kombiniert worden sind.
Rob65: Hm, und dafür haben sie die letzten 5 Jahre gebraucht. Good work guys.
BR: Wie sehen eure Planungen für die Zukunft aus?
Paul65: Wir haben im Moment eine Tour in Planung für September 2006, aber da ist noch nichts fest bestätigt. Wir lieben es einfach auf Tour zu sein, das könnten wir für immer machen. Allerdings möchten wir nicht, dass wir die Leute irgendwann langweilen wenn wir zu oft die gleichen Songs der beiden Alben live spielen. Außerdem möchten wir sicherstellen, dass die nächste Platte die wir einspielen werden, das beste Album wird, das je von einer Band aufgenommen wurde. Deshalb müssen wir unser Live Pensum etwas einschränken.
BR: Ok, das wars auch schon, vielen Dank dass ihr euch die Zeit genommen habt.
Paul65: Wir bedanken uns ebenfalls.
Die zarten Pianoklänge von radio protector erklingen und man fühlt sich gut aufgehoben und erhaben. Dieser Song ist ergreifend im wahrsten Sinne des Wortes. Nach ein paar Sekunden peitschen sich die Drums in den Song hinein und wieder bleibt niemand ruhig stehen. Dann noch 2 Zugaben, bei denen man endgültig den Kopf verliert. Am Ende ist man glücklich und geschlaucht zugleich, froh darüber dabei gewesen zu sein. Solch intensive Konzertmomente bekommt man nicht oft. Vergleichbar waren höchstens die letzten Shows von Oceansize, Isis oder Converge. Jeder, der diese Kapellen oder auch Mogwai auf seiner Herzensliste hat, sollte sich schleunigst mit 65DAYSOFSTATIC vertraut machen und die nächste Tour besser nicht verpassen. An evening to remember!
PS: Unter den Links findet ihr den Tour-Blog von 65DOS, in welchem es unter anderem eine sehr witzige Anekdote vom Zusammentreffen von 65 und der deutschen Polizei zu lesen gibt. Empfehlenswert!
Bogatzke , 13.05.2006
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