Konzertbericht

MS Dockville 2012 - I touch you with my Heiterkeit

MS Dockville 2012

I touch you with my Heiterkeit

Hamburg/Wilhelmsburg
10.08.2012

Röhrenhosen? Check. Seifenblasen? Check. Glitzer? Check. Wer sich beim Dockville den Kopf über die Ästhetik der Hipsterbewegung zerbricht, kann gleich zuhause bleiben. Und überhaupt: Was soll eigentlich dieses gähnend langweilige Stil-Bashing? Ihr Hater seid nicht besser als eure Großeltern, die eurem Vater die langen Haare verbieten wollten! So, nun zum Thema.




























Das Dockville 2012 war traumhaft, vom ersten Bier der Protagonisten am Freitagmittag bis zur letzten beseelten Shuttlebusfahrt in der Nacht zum Montag. Nach dem infernalischen Matschfest von 2011 hatte Petrus in diesem Jahr ein Herz für die Indie-Enklave im Hamburger Hafen. Zunächst stand der obligatorische Rundgang auf dem Gelände an, das jedes Jahr mit verspieltem Kunstkram aufwartet. In diesem Jahr zählten unter anderem Heuballen-Konstrukte, die als Wippe dienten, ein drei Meter langer Autobahnabschnitt, der mitten auf der Wiese zum Ruhen einlud oder ein herrlich illuminierter Baum aus PET-Flaschen zu den Highlights. Die wohl tollste Neuerung war jedoch die "Torte": Ein als Bühne genutzter Wohnwagen, umschlossen von einer breiten kreisförmigen Holzbank, dekoriert mit gigantischen Pappmaché-Sahnehäubchen. Kein einziges Mal sollten es sich die Protagonisten nehmen lassen, beim Vorbeilaufen kurz (oder stundenlang) zu angenehm sonderbaren Beats im Zentrum der Torte zu tanzen.

Die erste Band des Wochenendes hörte auf den Namen WE ARE TICHY, spielte im verwunschenen Wald auf der "Nest"-Bühne und sorgte mit ihrem progressiven Improvisations-Triphop aus dem Stand für eine Euphorie unter den Protagonisten, die die Laune steigen und den Seifenblasen-Pegel sinken ließ. Es folgte ein eher durchwachsener Auftritt des eigentlich wundervollen Thijs Kuijken alias I AM OAK, der auf der großen Bühne des Großschot leicht verloren wirkte und bedauerlich wenig Aufmerksamkeit für seine zarten Klänge erntete. Für durch die Bank gefälliges Indievergnügen sorgten DEAR READER (fröhlich), DARKNESS FALLS (düster) und THE MACCABEES (zappelig), bevor die Headliner MAXIMO PARK und HOT CHIP bei einigen Protagonisten das flaue Gefühl aufkommen ließen, dass sie sich doch mal lieber FRITTENBUDE und die stark unterschätzte APPARAT BAND am Vorschot angesehen hätten. Denn irgendwie zeichneten sich die Großen am Großschot vor allem durch Routine sowie stilsichere Hut- und Brillenwahl aus. Die Stimmung blieb ungetrübt, spielten doch die meisten Must-See-KünstlerInnen der Protagonisten ohnehin erst Samstag und Sonntag. Außerdem hatten sie Wunderkerzen und drei Euro für ein letztes Bier einstecken.



























Eine der Must-See-Künstlerinnen kommt aus Island, ist ausgesprochen zierlich und eröffnete den Samstag auf so charmante Art und Weise, dass die wenigen Zuschauer nicht die Nase rümpften, sondern entzückt kicherten, als sie mitten im Set ihre Texte vergaß. SÓLEY, du Gute, komm bald wieder. Über zu wenige Zuschauer konnte DAUGHTER im Anschluss nicht klagen, die hinteren Reihen hatten Mühe, ihre umwerfende Stimme im recht leisen Soundbrei ausmachen zu können. Währenddessen sorgte eine bizarre Verkettung unglücklicher Zufälle dafür, dass die männlichen Protagonisten zu diesem Zeitpunkt bereits eine veritable Menge klaren Alkohols getrunken hatten. Dementsprechend raveten sie sich in den nächsten Stunden in der Torte das Gift aus der Birne, um später ja nicht WYE OAK am Großschot zu verpassen. Es zahlte sich aus: Jenn Wasner und Andy Stack sorgten für eines der unumstrittenen Highlights des Festivals. Nur wenige bringen es derzeit so gut fertig, staubtrockenen Gitarrenkrach mit Harmonien zum Niederknien zu paaren. Großes Tennis. Eindeutig tanzbarer zeigten sich jedoch METRONOMY, von denen sich HOT CHIP ruhig abschauen können, wie man eine solche Bühne angemessen zerlegt. Die Protagonisten teilten sich nun auf. Es galt sich zu entscheiden zwischen sphärischer Pop-Avantgarde, verkörpert von JAMES BLAKE, und comichaftem Prollrap mit seltsam klugen Texten übers Kiffen, zelebriert von MARSIMOTO. Als die Wodka-Fraktion vom Nachmittag eine Stunde später aus der gigantischen Graswolke des grün erleuchteten Vorschots zum Großschot zurückkehrte, endorphingeladen und mit wund gegrölten Kehlen, befanden sich die Avantgardisten gerade im Aufbruch. Der auf Platte so zauberhafte JAMES BLAKE hatte sie vom Festival gelangweilt. War er doch zu sehr Downer für den Headlinerposten? Die Übriggebliebenen ließen sich nicht beirren, tanzten im Butterland in den Morgengrauen, schwärmten und umarmten, küssten und liebten.



























An einem gewöhnlichen Festivalsonntag breitet sich unter gewöhnlichem Festivalpublikum für gewöhnlich die Festivalmüdigkeit aus. Gehört man zu den glücklichen Hamburgern, deren Bett nur gut 20 Bahnminuten entfernt liegt, ist es jedoch kein Problem, bereits um halb vier mit einem frischen Pils in der Hand DIE HEITERKEIT im Maschinenraum abzufeiern. Ein Teil der Protagonisten stand völlig im Bann von Stella Sommers Ästhetik der Ernsthaftigkeit, während sie lässig Gitarrenpopsongs sang, für die man die ganze Band vom Stand weg heiraten möchte („Gefällt mir gut, ich bin bereit, i touch you with my Heiterkeit“). Das Debut-Album „Herz aus Gold“ erscheint am 24. August. Kaufen.

Die restlichen Protagonisten teilten die Begeisterung nur deswegen nicht, weil gerade auch die famosen ME SUCCEEDS am Vorschot den Ohren ihrer Zuhörer mit feiner Indiemusik schmeichelten. Von dort aus ging es direkt zurück in den Maschinenraum, wo ME AND MY DRUMMER zum Tanz luden. Kurzweilig, sympathisch, laut. Der Weg zu SLOW CLUB war kurz. Mit ihrem beinhart ausgelebten Frohsinn bildeten sie die Antithese zur HEITERKEIT, brachten ihre Gäste dabei aber ebenso zum strahlen. Für ein wenig Abwechslung zum traumhaften Indieprogramm des Tages sorgte das Duo mit dem wohlklingenden Namen DIE VÖGEL. Elektromusik mit Holzbläsern. Die Protagonisten goutierten den Irrsinn mit gehobenen Bierbechern und bewiesen nebenbei, dass locker sieben Menschen in einen Fotoautomaten passen.



























Die Tanzbeine sind müde. Nach dem letzten Album „Schall und Wahn“, das keinen der Protagonisten richtig packen konnte, schien der leere Shuttlebus genauso attraktiv wie der Headliner TOCOTRONIC. Ein Glück: Sie entschieden sich zu bleiben. Auf der großen Bühne entfalteten die neueren Songs wie „Macht es nicht selbst“ oder „Im Zweifel für den Zweifel“ ihre ganze Pracht, während „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ den verkaterten Glanz alter Tage zurückbrachte. Hätten sie als Zugabe nicht den 30-Sekunden-Punksong „Sag alles ab“ hingerotzt, wären wohl bereits jetzt alle Dämme der Sentimentalität gebrochen.

So geschieht dies erst auf der Rückfahrt. Mit einem Lächeln auf den Lippen und einer Träne im Auge steigen die Protagonisten in die Bahn. Ihr Herz liegt noch heute im Hamburger Hafen. Dockville, bleib so wie du bist.

The MS Dockville 2012 Movie from VISUAL ART HOUSE / FLAPP on Vimeo.



Fotos: Ines Marquet (groß), Eva Dietrich (klein)

Benedikt Ernst22.08.2012

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