Konzertbericht
MS Dockville 2011
Welcome to Mudville!
Hamburg-Wilhelmsburg
12.08.2011
Das Jahr mit dem gefühlt schlimmsten Sommer aller Zeiten sollte das erste Jahr werden, in dem ich Gast beim MS Dockville im Hafengebiet von Hamburg-Wilhelmsburg sein durfte. Viel Gutes wurde im Vorfeld erzählt, von stilsicherer Bandwahl bis zum Verzicht auf die übliche Kommerzialisierung. Das alles vor der beeindruckenden, industriellen Kulisse Wilhelmsburgs, umsäumt von den Ausläufern der Elbe, inmitten der charakteristischen Armada mächtiger Container-Kräne. Und einem Schlafplatz im eigenen Bett, was sich als absoluter Gewinn erweisen sollte.
Kaum etwas von den Hymnen war übertrieben. Außer an den Getränke- und Zigarettenständen gab es keine Werbung zu sehen. Die Bands, an denen man aufgrund der bloßen Menge an Bühnen oft einfach nur vorbeilief, passten immer perfekt ins Bild. Die Securities arbeiteten zum Teil auf freiwilliger Basis, waren immer locker, freundlich und hilfsbereit. Einmal auf dem Gelände angekommen, standen alle Zäune offen. Abgesehen von der Fusion kann man sich wohl auf keinem anderen Festival so frei bewegen. Kurzum: Das MS Dockville, dessen Bühnen und Holz-Aufbauten charmant nach Schiffs-Begriffen wie Vorschot, Spinnaker, Nest oder Maschinenraum benannt sind, kann getrost als eines der sympathischsten Festivals in Deutschland bezeichnet werden.
Um so tragischer, wenn Veranstalter, Bands und nicht zuletzt die Besucher von der geballen Wucht der höheren Gewalt getroffen werden. Es regnete in der kompletten Nacht von Donnerstag auf Freitag, gekrönt von einem apokalyptischen Wolkenbruch am Freitagmorgen - ein Festival versinkt im Schlamm. Die Fortbewegung konnte nur durch Gummistiefel gesichert werden. Mächtige Radlader taten ihr Bestes, die Wege zu glätten, und blieben dabei selbst im Matsch stecken. Die Zeltbühne "Maschinenraum" musste am Freitag geschlossen bleiben, größere Acts wie Kollektiv Turmstraße oder Hundreds wurden in die tiefe Nacht verbannt, kleinere Acts mussten ganz ausfallen oder auf den frühen Samstag ausweichen.
Aber wie man sich vielleicht schon denken kann: Die Stimmung hat sich niemand vermiesen lassen. Für richtige Woodstock-Stimmung war der Anteil an sorgsam gestylten Hipstern zwar zu groß, die meisten Besucher tobten sich jedoch lieber im Schlamm aus, als sich permanent darüber zu beschweren. Schließlich stand immer noch die Musik im Mittelpunkt. Und schöner als mit THE BLACK ATLANTIC hätte der Einstand kaum gestaltet werden können. Sie stellten mit ihren weltumarmenden Songs und ihrer herzerwärmenden Freundlichkeit unter Beweis, dass die besten Folkmusiker immer noch aus der Hardcore-Szene hervorgehen (in diesem Fall aus SHAI HULUD). Beseelt ging es weiter zu THOSE DANCING DAYS, der famosen, schwedischen Indie-Girlband. Die geballte gute Laune auf der Bühne sprang sofort aufs Publikum über, sodass der Schlamm nur so durch die Gegend spritzte. Nach einem Bier, einem Burger und einer ausgiebigen Erkundung des Festivalgeländes standen JOHNOSSI auf dem Programm. Nachdem mir die beiden Jungs beim letztjährigen Reeperbahn Festival aufgrund eines Drehers im Terminplan versagt blieben, liefen sie beim Dockville zu Höchstform auf. Beeindruckend, welchen Sound man aus einer verzerrten Akustikgitarre rausholen kann, wenn man sein Instrument nur ruppig genug anfässt. So muss ein Indierock-Konzert klingen!
Vom großen Sound in die Garage, zu meiner Neuentdeckung des Wochenendes: Die blutjungen CHUCKAMUCK aus Berlin schrammeln sich so herzallerliebst durch ihre krachigen Songs, dass man sie direkt knuddeln möchte, oder ihnen zumindest einen Gin Tonic ausgeben. Anarchisch wie die frühen VINES, mit unbekümmerten deutschen Texten - großartig. Inzwischen ist es dunkel geworden, was den Weg zu EGOTRONIC, die auf der heillos verschlammten Vorschot-Bühne spielten, sichtlich erschwerte. Folgenschwere Fehltritte waren keine Seltenheit, und an manchen Stellen konnte man Menschen beobachten, die sich an ihren eigenen Gummistiefeln aus dem Matsch zogen. Still stehen war bei agitierenden Elektro-Krachern wie "Das Leben ist tödlich" trotzdem nicht möglich, EGOTRONIC spielten ihren Lokalhelden-Bonus perfekt aus. Der Festivaltag hinterließ seine Spuren, sodass die EDITORS auch die letzte Band meines Abends sein mussten. Wie viele andere auch, sah ich das Konzert aus wunderbarer Perspektive von einem Grashügel aus, der wegen der offenen Zäune problemlos zu erklimmen war. Im Hintergrund leuchteten die bestrahlten Speicher und Kräne des Hamburger Hafens. Ja, es war ein gelungener Festivaleinstand.
Am Samstag empfing ich hoch geschätzten Besuch, sodass der sonnige (!) Nachmittag zunächst in den Straßen Altonas verbracht wurde. Unsere lange Nacht wurde eröffnet von einem Rapper, auf den der abgedroschene Begriff "Shootingstar" wirklich passt. CASPER betrat die Bühne, stieß auf ein endlos euphorisiertes Publikum und gab trotz seines leichten Spiels alles. Es ist verständlich, dass viele in seinen Texten zu viel Pathos sehen und seinen Durchmarsch an die Spitze der Charts kritisch beäugen. Andererseits lieferte der Bielefelder eine Show, die sich gewaschen hat. Feinste Unterhaltung, selbst für Leute, die für Rapmusik nicht viel übrig haben. Nach einem kurzen Zwischenspiel bei den herrlich grantelnden KREISKY aus Wien, verzichtete ich auf den avantgardistischen Rave von CRYSTAL CASTLES, um endlich mein erstes Konzert der GOLDENEN ZITRONEN zu sehen. Die Band um das kongeniale Duo Schorsch Kamerun/Ted Gaier ist inzwischen sichtlich ergraut. Das fortschreitende Alter bringt die Band jedoch nicht davon ab, mit klugen Texten voller Wortwitz ihre Anwiderung gegenüber den herrschenden Zuständen in die Nacht zu schreien. Nächster Halt: Headliner. Die bezaubernde SANTIGOLD brachte mit ihrem entspannten Mix aus Black Music und Indiepop die Hüften zum Schwingen. Ein Konzert, das niemanden zum Ausrasten brachte, aber ein zufriedenes Lächeln auf schlammbesprenkelte Gesichter zauberte. Zum Tanzen ging es ohnehin erst später in den wieder eröffneten "Maschinenraum": Die irren Schweden von Slagsmålsklubben trafen mit ihren Stücken, die eine Freundin vollkommen zutreffend als "Mario-Kart-Musik" bezeichnete, den Nerv der enthemmten Menge. Verstehen muss man das nicht, dazu tanzen aber schon.
Nach gefühlten 15 Stunden Schlaf wache ich am Sonntag auf und fühle mich wie gerädert. Die sich schon länger anbahnende und konsequent ignorierte Erkältung hebt mahnend ihren Zeigefinger. Widerwillig beuge ich mich und versuche auszublenden, dass an diesem Abend THE PAINS OF BEING PURE AT HEART, meine Lieblinge von AND YOU WILL KNOW US BY THE TRAIL OF DEAD und viele mehr die aufgeweichte Erde zum Beben bringen werden. Der Blick aus dem Fenster offenbart die nächste Regenfront. Doch in meinen Erinnerungen ans Dockville werden nicht nur die widrigen Umstände, sondern vor allem die großartigen Bands und die komplett entspannte Festivalatmosphäre vorherrschen. Eine Atmosphäre, die den Branchenriesen längst von bedingungslos begeistertem Eventpublikum genommen wurde.
Fotos: privat
Benedikt Ernst, 18.08.2011
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