Cd-Besprechung
Leserwertung: 15.0 Punkte
Stimmenzahl: 1
Eine nicht geringe Zahl an Menschen, die einmal in ihrem Leben an der Schwelle des Todes standen, berichten von sogenannten Nahtoderfahrungen, von Visionen also, etwa von Reisen durch Tunnel hin zu einem Licht oder vom Gefühl, den eigenen Körper zu verlassen. Von Neurophysiologen als bloße Vorspiegelungen des sterbenden Gehirns abgetan, erblicken andere in diesen Erfahrungen einen Beleg für die Existenz jenseitiger Realitäten. Ganz gleich, was denn nun der Fall ist: Menschen, die eine solche Erfahrung gemacht haben, scheinen durchweg eine andere Sicht auf die Welt und ihr Leben erworben zu haben.
Ähnlich könnte es auch David Line - Sänger der englischen Band Seafood - ergangen sein. Denn Line durchlitt vor der Entstehung dieses Albums eine schwere Lungenkrankheit, die auch ihn in die Nähe des Todes beförderte. Nach sechswöchigem Krankenhausaufenthalt kam Line dann aber dankenswerterweise wieder auf die Beine. Bei Seafood aber scheint danach nur wenig so zu sein wie zuvor. Während das Quartett auf den Vorgängeralben "Surviving The Quiet" (1999) und "When Do We Start Fighting" (2001) noch überwiegend rau und ungestüm zu Werke ging, liegt der Fokus des aktuellen Seafood-Albums "As The Cry Flows" eher auf leiseren, zum Teil psychedelischen Tönen und Melancholie.
Gleich zu Beginn nimmt das unheilschwanger entrückte "I Dreamt We Ruled The Sun" den Hörer gefangen. Caroline Banks, die hauptberuflich das Schlagzeug bedient, singt engelsgleich über einen schleppenden Bass, der im Verlauf des Liedes durch sich langsam aufbauende Gitarren und sphärische Elemente ergänzt wird. "Heat Walks Against Me" beginnt – mit einer wunderbaren Melodie gesegnet - ungleich entspannter und man meint es zunächst mit einem ganz und gar harmlosen Indie-Song zu tun haben. Doch nur zwei Minuten später beweisen Seafood auf dieser CD erstmals, dass sie das Rocken ganz und gar nicht verlernt haben: unvermittelt brechen noisige Gitarren auf großartige Weise alle Harmonie. "No Sense of Home" ist ein mit Country-Elementen verziertes melancholisches Kleinod, worauf "Summer Falls" dann erneut die rockige Seite der Band betont.
Auch die erste Single, das geradlinig rockende "Good Reason", mag für sich genommen kein schlechter Song sein, fügt sich aber als einziges Stück meiner Meinung nach überhaupt nicht in dieses Album ein. Die wirkliche Stärke Seafoods ist weniger das Ungestüme, sondern vielmehr die kompositorische und lyrische Vielfalt und der intelligente Einsatz von Melodien, wie sich etwa in "Kicking The Walls", "Milk and Honey" oder "Orange Rise" zeigt.
"As The Cry Flows" erweist sich im Ganzen als ein vergleichsweise abwechslungsreiches Album. Die wenigen Schwachpunkte werden durch die überwiegend gelungenen Songs ohne weiteres kompensiert. Nahtoderfahrung hin oder her – Seafood eröffnen dem Hörer keinen Einblick in unbekannte Seinsschichten, ein interessantes Album haben sie dennoch vorgelegt.
10 Punkte (von max. 15)
Martin Baum, 12.05.2004
TRACKLIST
1. I Dreamt We Ruled The Sun ***
2. Heat Walks Against Me ***
3. No Sense Of Home
4. Summer Falls
5. Kicking The Walls
6. Milk And Honey
7. 1324
8. Sleepover
9. Good Reason
10. Orange Rise ***
11. Broken Promises
12. Willow's Song
[ *** Anspieltipps ]
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